Verkehrsblatt 06/01 Seite 139-140

Radwegebenutzungspflicht nach der sog. Fahrradnovelle

StVO §§ 2 Abs. 4, 45 Abs. 9., 46 Abs. 2

1. Die Anordnung der Radwegebenutzungspflicht gemäß § 2 Abs. 4 Satz 2 StVO ist nicht schon dann zwingend geboten im Sinne von § 45 Abs. 9 StVO, wenn bei einer Mitbenutzung der Fahrbahn durch Radfahrer die Grünphase einer Ampel zur Erreichung angemessener Räumzeiten verkürzt werden muß.

2. Die Landesbehörden sind bei Anordnung der Radwegebenutzungspflicht gemäß § 2 Abs. 4 Satz 2 StVO im Rahmen ihres Ermessens an die Vorgaben der Verwaltungsvorschrift des Bundes (VwV-StVO) gebunden. Die Nichteinhaltung der VwV-StVO kann der betroffene Radfahrer als willkürlichen Eingriff in seine Rechte (Art. 3 Abs. 1 GG) geltend machen.

VG Berlin, Urt. v. 28.09.2000 - VG 27 A 206/99 (rechtskräftig)

Zum Sachverhalt: Der Kläger wendet sich gegen die durch Zeichen 237 angeordnete Radwegebenutzungspflicht auf der L-Straße und der S-Straße in Berlin, jeweils Hauptverkehrsstraßen mit drei Fahrstreifen je Fahrtrichtung. Der Kläger macht geltend, daß die Radwege nicht die von der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrsordnung zu § 2 Abs. 4 Satz 2 StVO (nachfolgend: VV-StVO) für benutzungspflichtige Radwege geforderten Kriterien erfüllten. Insbesondere werde die in der VV-StVO bestimmte Mindestbreite von 1,50 m um 0,50 m unterschritten. Die von der Beklagten flächendeckend vorgenommene Anordnung der Radwegebenutzungspflicht vor Hauptverkehrskreuzungen widerspreche der VV-StVO auch deshalb, weil bei einem Wechsel von der freigestellten Benutzung des Radweges zur Benutzungspflicht vor der Kreuzung die Linienführung nicht stetig und im Kreuzungsbereich sicher sei.

Die Beklagte verteidigt demgegenüber die Anordnung der Radwegebenutzungspflicht im wesentlichen mit dem Argument, daß die Trennung der Radfahrer vom Kraftfahrzeugverkehr an den Kreuzungen erforderlich sei, da diese derart großräumig seien, daß die Berücksichtigung der Radfahrer-Räumzeiten zu erheblichen unannehmbaren Leistungsverlusten der Lichtzeichenanlage führten. Die Entmischung des Verkehrs diene im übrigen grundsätzlich dem Schmutz der Fahrradfahrer am besten.

Aus den Gründen:

Die Klage ist begründet. Die angegriffenen Verkehrszeichen sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Voraussetzungen, unter denen für die hier streiterheblichen Straßenabschnitte eine Radwegebenutzungspflicht angeordnet werden konnte, liegen nicht vor.

Bei der rechtlichen Beurteilung ist zunächst davon auszugehen, daß es nach Aufhebung der grundsätzlichen Radwegebenutzungspflicht durch die seit dem 1. Oktober 1998 geltende Neufassung des § 2 Abs. 4 StVO grundsätzlich zulässig ist, daß Radfahrer nicht einen vorhandenen Radweg, sondern die Fahrbahn benutzen. Die Anordnung einer Radwegebenutzungspflicht durch Zeichen 237 zu StVO stellt sich damit nicht nur als Gebotsregelung, sondern - durch den Ausschluß der Nutzung der Fahrbahn - zugleich als Verbotsregelung und damit als eine die Straßenbenutzung durch den fließenden (Fahrrad-)Verkehr beschränkende Maßnahme dar. Denn die durch Zeichen 237 StVO angeordnete Radwegebenutzungspflicht verbietet dem zuvor zulässigerweise die Fahrbahn benutzenden Radfahrer, weiter auf der Fahrbahn zu fahren und steht insoweit hinsichtlich der Fahrbahnnutzung dem stets als Verkehrsbeschränkung anzusehenden Zeichen 254 StVO gleich.

Rechtsgrundlage für die Aufstellung der Zeichen 237 ist damit zunächst neben § 39 Abs. 1 StVO auch § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO, wonach die Verkehrsbehörden die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken aus Gründen der Sicherheit und Ordnung des Verkehrs beschränken der verbieten können. Hinsichtlich der Anforderungen, die an die Eingriffstatbestände des § 45 Abs. 1 bis Abs. 1 d StVO zu stellen sind, ist durch Verordnung vom 7. August 1997 (BGBl. I, 2028) folgender Abs. 9 in § 45 StVO eingefügt worden.

"Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen sind nur dort anzuordnen, wo dies aufgrund der besonderen Umstände zwingend geboten ist. Insbesondere Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs dürfen nur angeordnet werden, wenn aufgrund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in den vorstehenden Absätzen genannten Rechtsgüter erheblich übersteigt ..."

Nach dieser Bestimmung setzt eine verkehrsbehördliche Anordnung, die wie die hier angefochtene Radwegebenutzungspflicht (§ 2 Abs. 4 Satz 2 StVO) eine sonst zulässige Benutzung bestimmter Straßenstrecken für Radfahrer beschränkt, das Vorhandensein besonderer, zu einer solchen Regelung zwingender Umstände voraus (normative Umsetzung bzw. Verschärfung der schon für das vor Inkrafttreten dieser Bestimmung geltende Recht einschlägigen Rechtsprechung [BVerwG Buchholz 442.151 § 45 StVO Nr. 8, S. 26], vgl. zu § 45 Abs. 9 StVO auch OVG Bremen, NZV 2000, 140; OVG Hamburg NZV 2000, 346 und VGH Kassel, NZV 99, 397). Solche Umstände sind nach § 45 Abs. 9 Satz 2 StVO nur bei einer aufgrund der besonderen örtlichen Verhältnisse bestehenden außergewöhnlichen Gefahrenlage gegeben. Diese hohen normativen Anforderungen hat der Beklagte bei der angefochtenen Anordnung der Radwegebenutzung nicht beachtet (hierzu unter 1); darüber hinaus ist die Anordnung der Radwegebenutzungspflicht auch schon deshalb rechtswidrig, weil hierfür die Voraussetzungen der zwar nur verwaltungsinternen, aber das Ermessen der Straßenverkehrsbehörden für solche Anordnungen bundeseinheitlich bindenden Verwaltungsvorschriften zu § 2 Abs. 4 Satz 2 StVO (VkBl. 99, 290) - VV-StVO - nicht vorliegen (hierzu unter 2).

1. Der Beklagte hat die angefochtene Maßnahme im Klageverfahren im wesentlichen damit gerechtfertigt, daß die Anordnung der Radwegebenutzungspflicht die im Kreuzungsbereich der Hauptverkehrsstraßen mit außergewöhnlichem Abbiegeverkehr entstehenden Gefahren für Radfahrer minimieren solle und zugleich kürzere Räumzeiten für die ampelgeregelten Kreuzungen zur Vermeidung von Staubildungen und Abgasbelastungen im Fahrzeugverkehr erreicht werden sollten.

Es liegt auf der Hand, daß diese Begründung den besonderen Anforderungen des § 45 Abs. 9 StVO nicht standhalten kann. Es ist zwar nicht zu verkennen, daß die vom Beklagten genannten Gründe unter der Voraussetzung einer gefahrlosen Benutzung des Radwegs zur Erreichung der aufgeführten Ziele förderlich sein könnten, doch fehlt es bereits an dem gesetzlichen Erfordernis des § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO, daß die Maßnahme "aufgrund der besonderen Umstände zwingend geboten ist".

Die Kammer kann bereits das Vorliegen "besonderer Umstände" nicht erkennen. Soweit im Widerspruchsbescheid davon ausgegangen wird, daß Radfahrer bei Benutzung der Fahrbahn dann "erheblichen zusätzlichen Gefahren" ausgesetzt seien, wenn es sich um eine bevorrechtigte Straße handele und eine der hier sämtlich gegebenen weiteren Voraussetzungen - Höchstgeschwindigkeit über 50 km/h, mehr als zwei Fahrstreifen für den fließenden Verkehr, eine im Verhältnis zu der Zahl, der dem fließenden Verkehr zur Verfügung stehenden Fahrstreifen hohe Kraftfahrzeugverkehrsbelastung, Staubildungen - vorliege, genügt das den Anforderungen an das Vorliegen "besonderer Umstände" für die Anordnung der hier streitigen Radwegebenutzungspflicht schon deshalb nicht, weil diese Gefahrenlage der angefochtenen Anordnung nicht zugrundegelegt worden ist. Denn es ist lediglich der Radwegbereich vor den beiden Kreuzungen, nicht etwa der Radweg auf der gesamten Länge - für den die genannten Voraussetzungen ebenfalls zutreffen - für benutzungspflichtig erklärt worden. Entsprechend den Ausführungen im Klageverfahren war für die streitige Anordnung vielmehr die Verkehrssituation im Kreuzungsbereich maßgeblich. Diese weist allerdings keine erkennbaren Besonderheiten auf. Denn vergleichbare ampelgeregelte Kreuzungen zwischen Hauptverkehrsstraßen sind in Berlin häufig, es gibt keinen Anhaltspunkt, daß die dabei entstehenden Gefahren für den Radverkehr erheblich anders zu beurteilen wären als die Situation an den hier streitigen Örtlichkeiten. Die einzige vorliegende Besonderheit zu anderen Kreuzungen von Hauptverkehrsstraßen liegt darin, daß eine der kreuzenden Straßen im vorliegenden Fall einen Radweg im Kreuzungsbereich aufweist. Daß hierfür die Anordnung einer Radwegebenutzungspflicht nicht "zwingend geboten", also die zur Gefahrenabwehr unbedingt erforderliche und allein in Frage kommende Möglichkeit ist, wird bereits dadurch belegt, daß die im Kreuzungsbereich von Hauptverkehrsstraßen entstehenden Gefahren für den Radverkehr andernorts nicht dazu geführt haben, daß - sei es durch Anlage von Radwegen oder durch besondere Radspuren - eine Entmischung des Verkehrs herbeigeführt worden wäre; so sind die vorliegend kreuzenden jeweils mehrspurige Hauptverkehrsstraßen ohne Radweg oder Radspur. Nimmt die Verkehrsbehörde auf diesen beiden Straßen die im Kreuzungsbereich bestehenden Gefährdungen für Radfahrer ohne jede Verkehrsregelung hin, kann von einer zwingenden Erforderlichkeit, für die die gleiche Kreuzung querenden Straßen eine Radwegebenutzungspflicht anzuordnen, nicht ausgegangen werden.

Prinzipiell nicht mit § 45 Abs. 9 StVO vereinbar ist das Bestreben des Beklagten, durch die Radwegebenutzungspflicht eine Verkürzung der Grünphase zur Förderung des fließenden Fahrzeugverkehrs auf der dem Radweg parallelen Fahrbahn zu erreichen. Nach § 45 Abs. 9 Satz 2 StVO können Beschränkungen des fließenden Verkehrs - hier des Radverkehrs - ohnehin nur bei einer hier (wie dargestellt) nicht vorliegenden besonderen, das allgemeine Risiko für die Verkehrssicherheit erheblich übersteigenden örtlichen Gefahrenlage und nicht aus anderen Gründen angeordnet werden. Unabhängig davon ist die Anordnung einer Radwegebenutzungspflicht zur Verkürzung einer Räumphase bei einer ampelgeregelten Kreuzung auch nicht aufgrund besonderer Umstände zwingend geboten, denn auch hier steht dem - wie oben ausgeführt - bereits entgegen, daß vergleichbare Maßnahmen schon bei den in Ost-West Richtung kreuzenden Straßen nicht angeordnet worden sind, dort also die Verlangsamung der Räumung der Kreuzung durch den Radverkehr hingenommen wird, ohne daß erkennbar oder ersichtlich wäre, daß dort eine grundlegend andere Verkehrssituation vorliegen würde als in der HL- bzw. S-Straße.

Da somit die gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung einer Radwegebenutzungspflicht nicht vorliegen, ist es für die Entscheidung unerheblich, daß die Senatsverwaltung gemäß § 46 Abs. 2 StVO bei Vorliegen einer an bestimmte Voraussetzungen geknüpften Gefährdung für nicht den Anforderungen der VV-StVO an die lichte Breite genügende Radwege Ausnahmen zugelassen hat. Denn die Regelung des § 46 Abs. 2 StVO gibt keine Befugnis dazu, von den normativen Voraussetzungen des § 45 Abs. 1, Abs. 9 StVO für den Erlaß von verkehrsbehördlichen Anordnungen abzuweichen.

2. Selbst wenn der Beklagte mit der angefochtenen Anordnung nicht die zwingenden Voraussetzungen des § 45 Abs. 9 StVO mißachtet hätte, wäre die Anordnung rechtswidrig. Denn die Anordnung der Benutzungspflicht für die hier streitigen Radwege steht in Widerspruch zu den VV-StvO, die als bundeseinheitliche Regeln das Ermessen bei einer derartigen verkehrsbehördlichen Anordnung binden und deren Nichteinhaltung vom Kläger als willkürlicher Eingriff in seine Rechte (Art. 3 Abs. 1 GG) geltend gemacht werden kann.

Nach II Nr. 2 VV-StVO ist Voraussetzung für die Anordnung der Radwegebenutzungspflicht, daß die Benutzung des Radwegs nach der Beschaffenheit und dem Zustand zumutbar sowie die Linienführung eindeutig, stetig und sicher ist. Vorausgesetzt wird "in der Regel" eine im vorliegenden Fall nicht vorhandene Breite von mindestens 1,50 m. Nur "ausnahmsweise und nach sorgfältiger Prüfung kann von den Mindestmaßen dann, wenn es aufgrund der örtlichen oder verkehrlichen Verhältnisse erforderlich und verhältnismäßig ist, an kurzen Abschnitten (z.B. kurze Engstelle) unter Wahrung der Verkehrssicherheit abgewichen werden".

Diesen Anforderungen genügt der unter Benutzungspflicht gestellte Radweg ersichtlich nicht. Dabei kann dahinstehen, ob nicht schon der Umstand, daß der vor jeder Kreuzung auf einer Länge von mindestens 100 m für benutzungspflichtig erklärte Radweg durchgängig die erforderliche Breite nicht besitzt, dazu führt, daß nach der VV-StVO - die nach ihrem allerdings der "authentischen Interpretation" der Behörde unterliegenden (vgl. dazu BVerwG NJW 79, 2059) Wortlaut nur für kurze Abschnitte, nicht aber für die gesamte Wegstrecke eine Unterschreitung der Benutzungspflicht vorsieht - die Voraussetzungen für eine derartige Anordnung fehlen. Jedenfalls ist Voraussetzung für die Anordnung einer Benutzungspflicht, daß der benutzungspflichtige Radweg den Anforderungen an die Verkehrssicherheit genügt. Hieran fehlt es, wie die Ortsbesichtigung ergeben hat an der Müller- bzw. Reinickendorfer Straße.

Nach alledem kann das Gericht nur feststellen, daß für die benutzungspflichtig erklärten Radwegabschnitte keinesfalls als verkehrssicher - nämlich eine ungehinderte Fortbewegung unter weitgehender Ausschaltung vorhersehbarer Gefährdungen durch andere Verkehrsteilnehmer ermöglichend - anzusehen sind. Die Anordnung einer Radwegebenutzungspflicht scheidet deshalb von vornherein aus, sie steht auch an, wenn von den in der VV-StVO genannten Anforderungen ausnahmsweise abgewichen werden soll, unter dem Vorbehalt der "Wahrung der Verkehrssicherheit".

Dr. Georg Bitter